SCH: Timmy, wie bist du damals zu Burckhardt gekommen?
TN: Als ich noch Assistent bei Heinrich Bernhard Hoesli war, hat mich ein Brief von Martin Burckhardt erreicht, in dem er schrieb: «Wir tragen uns mit dem Gedanken, die Leitung des Büros auszuweiten, und pflegen daher uns mit einigen Architekten in Verbindung zu setzen.» Damals war ich noch in Zürich in einem sehr kleinen Büro und habe mich geehrt gefühlt. Ich bin dann 1969 zu Burckhardt gestossen.
CI: Was hat das Arbeiten bei Burckhardt ausgemacht?
TN: Eines meiner persönlichen Highlights war, dass ich eine Weiterbildung im Bereich der Orts-, Regional- und Landesplanung machen durfte, was mich vor allem Ende der 1970er-Jahre enorm weitergebracht hat. Und ich bin auch in der ganzen Welt herumgereist, wie beispielsweise nach Teheran zusammen mit dem britischen Architekten James Stirling für die Programmierung eines biochemischen Forschungszentrums, ausserdem in die Vereinigten Emirate für ein organoleptisches Analyselabor oder dann mit Zweifel Strickler nach Libyen. Denn dort waren unser Wissen und unsere Kenntnisse aus dem Industriebau und der Chemie gefragt. Für den Auftrag war ich über zwanzigmal in Teheran. Alles war immer ein wenig abenteuerlich, und wenn es im Hotel kein Bett mehr gab, habe ich einfach in der Sauna geschlafen.
Für den Auftrag in Teheran hiess es auch, dass wir nur das Programmieren, aber nicht das Bauen übernehmen dürften. Ich habe dann versucht zu verhandeln, und man liess sich darauf ein, dass ich beim Projekt mitwirken könnte, allerdings unter der Bedingung, dass ich entweder gemeinsam mit zwei bis drei iranischen Architekten bauen müsste oder dann mit einem angesehenen internationalen Architekten. Ich musste mich gleich an Ort und Stelle entscheiden, ohne Bedenkzeit, und habe mich für letztere Variante entschieden. Jedoch musste ich auch gleich am nächsten Tag sagen, mit welchem internationalen Architekten ich arbeiten wollte. Da habe ich geantwortet: «Mit James Stirling.» Und wie es der Zufall so wollte, hatten sie parallel schon zusammen mit ihm an einem anderen Projekt, einem kleinen Museum, gearbeitet. Es wurde dann alles in die Wege geleitet, und James Stirling wurde mitgeteilt, dass am nächsten Tag ein Herr aus der Schweiz namens Timmy Nissen in sein Büro kommen werde, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir haben das Vorprojekt erarbeitet, aber dann kam die Revolution und der Schah wurde entmachtet. Unser Auftraggeber wurde ermordet und der Projektleiter ist geflüchtet. Es wurde alles chaotisch.
Ich war für die Auslandaktivitäten von Burckhardt im Nahen Osten verantwortlich und habe viel in der Programmierung gewirkt. Es gab Zeiten, da habe ich wahrscheinlich besser gewusst, wie ein Labor funktioniert, als der Laborexperte vor Ort, einfach weil es mich interessiert hat.
Wenn wir im Ausland waren, haben uns die Leute dort nicht mit «Das sind unsere Architekten» vorgestellt, sondern ganz stolz mit «Das sind unsere Schweizer Architekten». Swissness ist immer noch positiv konnotiert. Und wenn man grosse Bauten wie jene für die Pharmaindustrie vorstellen konnte, machte das schon Eindruck.
CI: Welches waren Meilensteine für dich in deiner Zeit bei Burckhardt?
TN: Ein grosser Meilenstein, baulich gesehen, war das Vivarium des Basler Zoos. Dass man anhand dieses Wandelgangs, den man unter das Wasser abtauchen lässt, durch das Vivarium geführt wird, sodass immer nur einzelne Schauplätze im Fokus stehen und entdeckt werden können und nie alles auf einmal zu sehen ist, fand ich eine Glanzidee – und finde es immer noch.
CI: Welche Projekte – realisierte und nicht realisierte – waren und sind für die Entwicklung von Burckhardt im Nachhinein die bedeutendsten?
TN: Alle Bauten für die chemische Industrie, die durch die Beziehungen von Samuel Koechlin mit der J.R. Geigy AG zustande gekommen sind. Die weltweiten Masterplanungen sind geschickt geplant und auch langfristig erfolgversprechend. Das Bürogebäude auf dem Schorenareal in Basel war ein Wagnis und ein wegbereitendes Projekt, denn es war eines der ersten Grossraumbüros in der Schweiz.
CI: Welche Projekte stehen bezeichnend für deine persönliche Zeit bei Burckhardt?
TN: Unter anderem das Geigy-Hochhaus mit seinen «Flügeln», es war ja damals das höchste Gebäude der Stadt und hat wegen der Bewilligungen für Aufsehen gesorgt. Aber Martin Burckhardt konnte sich da immer durchsetzen, denn er konnte mit Wucht auftreten. Einmal erinnere ich mich, als ihn der Sandoz-Chef damit konfrontiert hat, für zukünftige Projekte den Kreis der Architekturbüros öffnen zu wollen, also dass er weitere Büros für Ideenfindung dazuholen möchte. Daraufhin hat Martin geantwortet: «Ich habe 15 bis 20 Jahre meines Lebens für die Sandoz ‹geopfert›, und nun das?» (imitiert Martin Burckhardts Entrüstung). Wir sind aufgestanden und gegangen, aber als wir draussen waren, hat Martin mich angeschaut und schelmisch gefragt: «Habe ich übertrieben?»
CI: Beende den Satz für uns: «Martin Heinrich Burckhardt war ...»
TN: «... schillernd.» Wenn ich einen Generaltitel für seine Person wählen müsste, dann auf jeden Fall «schillernd». Er war einer der wenigen, die langfristig planen und noch unbekannte Veränderungsbedürfnisse erkennen konnten – was man heute vielleicht als flexibel, agil und anpassungsfähig bezeichnen würde. Auch gewaltige Ideen konnte er schon früh sehen – und Humor hatte er. Ein Original war er auf jeden Fall, aber auch ein schwieriger Mensch. Es stand immer die Frage nach den Ausgaben für Projekte im Raum und dem Verhältnis zwischen Ausgaben und Einnahmen. Martin hatte immer ein ambivalentes Verhältnis zu Geld: Er hatte zwar viel davon, aber er hatte auch Berührungsängste. Wir hatten immer grosse Diskussionen darüber, wie man ein Projekt belasten sollte. Und natürlich konnte er wahnsinnig gut zeichnen – wie ein Herrgott, aber auch wie ein Teufel.
CI: Worauf bist du stolz?
TN: Auf das Projekt Alterszentrum Weiherweg. Auch dazu gab es eine Geschichte: An diesem Projekt habe ich zusammen mit Steffi Bader gearbeitet. Dann kam Martin Burckhardt einmal vorbei, hat es mit «furchtbar und als einzige Katastrophe» kommentiert und ist direkt zum damaligen Leiter der Baukommission, George Gruner, marschiert, um die Fortführung in dieser Art zu unterbinden. Der ist natürlich nicht darauf eingegangen. Wir konnten das Projekt erfolgreich umsetzen.
SCH: Waren solche Aktionen dann auch der Auslöser für deinen Weggang bei Burckhardt, oder wie ist das vonstattengegangen damals, als du und Edi Bürgin beschlossen habt, zu gehen?
TN: Einmal sass ich mit meiner Frau Catherine an einem Sonntagabend beim Essen und sie fragte mich, warum ich schon wieder so schlecht gelaunt war. Ich antwortete, dass die bevorstehende Reorganisation im Büro mir Kopfzerbrechen bereitete. Worauf sie mich fragte, warum ich denn nicht einfach von Burckhardt fortgehen würde, da es immer öfter vorkam, dass mir die Arbeit die Laune verderben würde. Das war der Auslöser. Nach Rücksprache auch mit meinen vier Kindern, die dieses Vorhaben mit Begeisterung unterstützten, bin ich dann am Montag ins Büro zu Edi (Bürgin) gegangen und habe ihm verkündet: «Edi, es ist beschlossen, ich werde Burckhardt verlassen.» Darauf hat er nur geantwortet: «Ich auch.» Er hat nicht einmal geantwortet, dass er mitkommen werde, bloss: «Ich auch.»
Gemeinsam sind wir dann zu Martin Burckhardt gegangen, das war im September 1981, um ihm unseren Entscheid mitzuteilen. Er fragte, wie lange wir noch bleiben würden, denn als Partner galt für uns eigentlich eine Kündigungsfrist von sechs Monaten. Gegen Ende des Jahres sind wir gegangen und haben 1982 unser eigenes Büro «Bürgin Nissen» gegründet – ohne Kunden und ohne Aufträge.
SCH: Wie war das Verhältnis dann danach?
TN: Ein grosser Verwaltungsbau von Tchibo in Deutschland stand bei Burckhardt noch an, bevor wir gegangen sind, und Tchibo wollte ihn in erster Linie mit Edi Bürgin realisieren, aber Martin bestand darauf, dass er selbst Partner bei diesem Projekt sei. Daraufhin war er den Auftrag los, denn Tchibo wollte das Projekt nur noch mit Bürgin Nissen umsetzen. Eine weitere Geschichte war auch die, als mir der Direktor der PTT mitteilte, er habe einen Brief von Martin Burckhardt betreffend eines unserer grossen bevorstehenden Projekte für die PTT erhalten. Darin stand, dass das Projekt eine einzige grosse Katastrophe werden würde – in gestalterischer, technischer, terminlicher und finanzieller Hinsicht. Der Direktor hat Martin Burckhardt nur geantwortet, dass er überzeugt sei, dass wir keinen einzigen Fehler machen und das Projekt bestimmt einwandfrei führen würden. Martin hatte sicherlich Mühe, zu verlieren und hatte gleichzeitig Respekt vor uns, aber das Verhältnis war natürlich kein sonderlich gutes nach unserem Weggang.
Das, was Burckhardt immer ausgemacht hat, ist sicher die Vielfältigkeit an Leuten.
Timothy O. Nissen
CI: Woraus besteht die Burckhardt’sche DNA?
TN: Das, was Burckhardt immer ausgemacht hat, ist sicher die Vielfältigkeit an Leuten. Eine Vielfältigkeit, die nicht nur Verfügbarkeit, sondern auch Flexibilität generiert.
CI: Welche Bedeutung hatten und haben die Begriffe Teamgeist und Partnerschaft?
TN: Dass man sich 100 Prozent auf den anderen verlassen kann, und umgekehrt. Jeder der Partner bei Burckhardt hatte seine Stärken und seine Schwächen – aber auch Gemeinsamkeiten und Spezialitäten. Dadurch haben wir uns immer gut ergänzt. Dass man das Grosse und Ganze zusammen verfolgen und gemeinsam tragen kann, darin hat man sich tatsächlich ergänzt und man hatte Respekt voreinander. Martin Burckhardts Stärke war unter anderem auch sein Humanismus und das Wissen um die Stadt und die Region Basel. Auch konnte er beispielsweise in einer Diskussion plötzlich Bezug auf Aristoteles nehmen.
Alles in allem hatte ich immer inspirierende und interessante Personen bei Burckhardt um mich, allen voran Steffi Bader. Er war ein renitenter Typ und hat sich nie einschüchtern lassen. Ich habe ihn auch mal gefragt: «Wie hältst du es eigentlich in diesem Haus aus, mit dieser Hierarchie, die sich durch alle Abteilungen hindurchzieht?» Er hat mich mit einem strahlenden Lächeln angeschaut und geantwortet: «Ich arbeite mich einfach durch die Lücken eurer Organisation.» Das ist mir geblieben.
Für mich ist Architektur die Konkretisierung von gesellschaftlichen und sozialen Bedürfnissen. Der Mensch steht im Zentrum.
Timothy O. Nissen
CI: Welche Bedeutung hat Architektur für dich?
TN: Für mich ist Architektur die Konkretisierung von gesellschaftlichen und sozialen Bedürfnissen. Der Mensch steht im Zentrum. Mir gefällt es, wenn etwas gebaut wird und auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Menschen eingegangen wird, die den Bau danach nutzen oder sich darin aufhalten. Das führt meiner Meinung nach zum Erfolg und zu gelungenen Projekten.
SCH: Ein Leitfaden von Burckhardt war ja auch immer der Gedanke der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. War das etwas, das speziell auf Martin Burckhardt zurückzuführen ist?
TN: Das denke ich nicht, aber es gibt bestimmt auch das andere Extrem, wo nur das Formale im Zentrum steht und Ziel der Architektur ist, aber das war Burckhardt dann wiederum auch nicht. Solche Bauten können zwar zweifelsohne schön sein, aber wenn man den Sinn und Zweck nicht verstanden hat, dann ist ein Bau trotzdem nicht richtig gelungen.
CI: Welches sind deine wichtigsten Erkenntnisse und welches dein wertvollstes Wissen aus deiner Arbeit?
TN: Sicherlich, dass je grösser etwas wird, desto besser muss alles organisiert sein. Man kann nicht einfach die Haltung, die man zu zweit teilt, auf ein Büro mit 40 Personen übertragen. Es muss alles mitwachsen, man muss schauen, dass die Organisation ein Hilfsmittel bleibt und kein Führungsmittel wird.
Einen richtigen Lehrlingsbetrieb habe ich immer ein wenig vermisst bei Burckhardt, denn ich finde, dass ein Büro dieser Grösse auch die Verantwortung trägt, einen solchen zu pflegen. Es gibt dadurch auch immer eine gute Durchmischung und man vermeidet, dass ein Büro immer «älter» wird.
CI: Was würdest du denn einer jungen Person raten, die neu in diesem Berufsfeld startet?
TN: Ich würde raten, bei einem kleineren Büro zu starten und nicht direkt bei den grossen, wo man einer von Hunderten ist. Man hat dadurch eher die Möglichkeit, zu lernen und zu profitieren.
CI: Welche Themen beschäftigen dich heute, ist Architektur eines davon?
TN: Die Liste ist lang und umfasst auch einige heute vielleicht allzu gängige, aber trotzdem bedeutende Aspekte: Nachhaltigkeit, neue Materialien, Kreislaufplanung etc.
Was die Stadtplanung anbelangt, zitiere ich gerne Vittorio Lampugnanis pointierte Aussage: «Wenn wir die Umweltbedrohung, die das Bauen darstellt, ernst nehmen, reicht es nicht, mit Holz zu bauen und Fassaden zu begrünen. Wir müssen die Zwangsmobilität überflüssig machen, die sinnlosen Abbrüche brauchbarer Bausubstanz stoppen, dem exzessiven Landverbrauch Einhalt gebieten. Wir müssen Städtebau betreiben.»
CI: Was wünschst du dir für die Zukunft, auch von Burckhardt?
TN: Für Burckhardt würde ich mir wünschen, dass es so weitergeht, wie es sich mit Samuel Schultze entwickelt hat. Und ganz nebenbei fände ich es spannend, das von dir, Sämi, einmal vorgeschlagene Konzept umzusetzen und durch verschiedene Jurys dieselben Projekte bewerten zu lassen. Das ist natürlich schwer realisierbar, aber spannend wäre es auf jeden Fall, denn es würde aufzeigen, wie stark die Zusammensetzung der Jury einen Einfluss auf die Entscheidung hat – oder eben nicht.
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