VB: Es ist nett, dass ihr gekommen seid. Das Thema heute ist die Firma?
SCH: Ja, das Thema ist die Firma, aber natürlich damit auch eng verbunden die Hauptperson der Firma, Ihr Mann Martin Burckhardt. Und weil wir ihn nicht mehr selber befragen können, freuen wir uns darauf, mit Ihnen zu sprechen, um gemeinsam ein Stimmungsbild rund um die Firma zu zeichnen.
CI: Und damit kommen wir auch schon zur ersten Frage: Wer war Martin Heinrich Burckhardt?
VB: Martin war ein hochintelligenter, künstlerisch begabter und fantasievoller Mensch. Denn er konnte sich künstlerisch sehr gut ausdrücken und wurde dafür geschätzt. Humorvoll war er auch – sonst hätte er mir auch gar nicht gefallen. Wir haben 1952 geheiratet, kurz nachdem die Firma 1951 gegründet wurde. Sehen Sie, alles Fabelhafte passierte damals zur gleichen Zeit!
SCH: Dies wird auch in seinen Zeichnungen ersichtlich, in denen sich sein Humor abbildet. Er hat sich in ihnen auch immer selbst dargestellt, aber immer sehr klein, als kleines Männchen.
VB: Aber dennoch hat er sich selbst dargestellt! Ich denke, es war bei diesen Zeichnungen schon auch ein wenig Eitelkeit dabei, gleichzeitig habe ich die Zeichnungen auch immer als eine Art Signatur von Martin gelesen. Ich weiss auch gar nicht, ob er sich selbst wirklich wichtig genommen hatte, aber er wusste schon um seinen Wert.
Martin hatte eine sehr begabte Mutter, die ihn in vielem geprägt hatte, denn auch sie war zeichnerisch und künstlerisch begabt sowie kulturell interessiert. Natürlich auch sein Vater, aber ich glaube, seine Mutter war die grössere Persönlichkeit.
Und auch was die Firma betrifft, die ist in sehr kurzer Zeit sehr erfolgreich geworden, denn Martin war ja auch mit «der Industrie» verbandelt, mit Geigys und Koechlins. Das schadete natürlich nicht. Aber diese Beziehungen allein nützten ja noch nichts, man musste sie auch pflegen und wissen, wie man sie einsetzt. Das war Martins Begabung, er konnte seine Intelligenz und seinen Humor gleichermassen einsetzen.
CI: Welche Bedeutung hatte die Firma Burckhardt in Ihrem privaten Leben und wie sah der Alltag bei Ihnen aus?
VB: Martin war viel abwesend, ob das positiv oder negativ zu bewerten ist, weiss ich nicht. Er war jedenfalls kein «Peterli Meier», der um 7 Uhr aufstand, um 7.30 Uhr im Büro war und um 17 Uhr wieder von der Arbeit nach Hause kam. Aber chaotisch war er auch nicht, und er war sicher sehr gern in seinem Büro, das er ja auch gegründet hatte. Er hat es allen voran geprägt.
SCH: Und irgendwann brauchte er dann einen Partner, und den hat er in Guido Doppler gefunden.
VB: Da Martin intelligent war, wusste er, dass er einen Partner brauchen würde, der anders als er war und ihn ergänzen konnte. Er hat das erkannt und demensprechend gehandelt. Auch Guido Doppler ist zweifelsfrei ein blitzgescheiter Mann, aber nicht mit dem Humor und der schöpferischen Kraft, wie Martin sie besass. Guido Doppler brachte dafür die Ordnung in den Betrieb. Darüber war Martin sehr froh, dass er diese Aufgabe nicht selbst übernehmen musste und abgeben konnte. Mein Mann hatte keinerlei Interesse daran, Monatsabschlüsse oder Ähnliches zu kontrollieren. Vielleicht unterstelle ich ihm das jetzt auch einfach. Davor hatte er noch Karl Eckert, der war auch ganz fabelhaft, vielleicht ein wenig spiessbürgerlich, aber so bildete er das nötige Gegengewicht, damit sich Martin schöpferisch entfalten konnte.
CI: Und wenn Martin zu Hause war, womit hat er dann seine Zeit verbracht?
VB: Er hat viel gezeichnet, sich zu Hause erholt und an ganz andere Dinge gedacht als an die Arbeit. Wir haben sehr selten über seine Arbeit gesprochen, denn das war unsere Stärke, dass es das nicht gebraucht hatte. Und er war auch kein Vater, der mit seinen Kindern nach der Arbeit draussen Fussball spielte, dafür konnte er wunderbar Geschichten erzählen. Er besass ja eine grosse Fantasie und hat immer neue Geschichten erfunden, also nicht die alten Märchen erzählt, sondern wirklich alles spontan erfunden.
SCH: Wie habt ihr Enkelkinder ihn denn erlebt?
RL: Auch als sehr fantasievoll, und auch ich kann bestätigen, dass er einen lustigen Humor hatte. Uns Enkelkinder hat er oft selbst erfundene Geschichten erzählt, vor allem die einer lustigen Figur namens «Ellerlibellerli», die immer wieder neue Abenteuer erlebte. Besonders wenn wir im Urlaub waren, hat er jeden Abend ihre Geschichte aus dem Stegreif erfunden und ein Stück weitererzählt.
Martin hat das erste Hochhaus der Stadt gebaut, das man später leider wieder abgerissen hat. Er war in vielen Dingen auch Wegbereiter, ich würde sogar sagen avantgardistisch.
Veronika Burckhardt-Henrici
SCH: Sein Ideenreichtum hat sich im Verbalen, Zeichnerischen und Architektonischen niedergeschlagen. Die Bauten in den 1960er- und 1970er-Jahren sind ja relativ streng und haben klare Strukturen, sie sind nutzungskonform. Flexibilität war und ist dabei ein Thema. Martin wusste genau, was seine Bauherren möchten und brauchen, konnte das umsetzen und gleichzeitig aber auch Bauten realisieren, die zu Wahrzeichen der Stadt wurden.
VB: Das stimmt, Martin hat das erste Hochhaus der Stadt gebaut, das man später leider wieder abgerissen hat. Er war in vielen Dingen auch Wegbereiter, ich würde sogar sagen avantgardistisch. Dass das Geigy-Hochhaus abgerissen worden ist, tut mir heute noch weh. Denn manchmal wurden die Häuser auch einfach abgerissen und erst im Nachhinein wird festgestellt, dass es gar nicht nötig gewesen wäre.
CI: Wissen Sie, auf welche Bauten Martin stolz war?
VB: Das kann ich nicht beantworten, aber ich denke, obwohl er keine falsche Bescheidenheit besass, dass er kein besonders stolzer Mann war.
Martin hat bestimmt vieles in dieser Stadt als Erster gemacht, denn die meisten Leute fahren ja immer auf einem Gleis, das sie schon kennen. Nicht aber Martin, er hat neue Wege gefunden.
Veronika Burckhardt-Henrici
SCH: Welche Projekte sind aus eurer Sicht die spannendsten?
RL: Für mich ist es das BIZ-Gebäude, das finde ich eindrücklich. Dieser Bau sollte ursprünglich ja eigentlich höher werden. Mein Grossvater war der Meinung, höher wäre besser gewesen, aber das hat ihm die Stadt nicht erlaubt.
VB: Für mich ist nicht ein spezieller Bau der spannendste, sondern es ist die Tatsache, dass Martin die Fähigkeit und den Mut besass, Ideen zu realisieren, die niemandem vorher in den Sinn gekommen waren oder die umzusetzen sich niemand vor ihm traute. Er hat bestimmt vieles in dieser Stadt als Erster gemacht, denn die meisten Leute fahren ja immer auf einem Gleis, das sie schon kennen. Nicht aber Martin, er hat neue Wege gefunden.
CI: Liess man ihn denn diese neuen Wege auch gehen?
VB: Bestimmt nicht alle, aber viele haben glücklicherweise seine Genialität erkannt und ihn gelassen.
SCH: Er wollte ja beispielsweise auch die Wettsteinbrücke horizontal in den Münsterhügel hineinbauen lassen. Das konnte er aber nicht realisieren. Wie ging er mit Situationen um, wenn seine Ideen nicht auf Anklang stiessen?
VB: Er war in solchen Momenten sicherlich betrübt, aber er war auch nicht derjenige, der sich dann weinend im Kämmerlein einschloss. Ich selbst bin gar nicht kreativ, aber ich weiss, dass man als schöpferischer Mensch oft missverstanden wird in seinen Vorstellungen. Martin hat sich immer wieder einmal in solchen Situationen wiedergefunden. Dennoch konnte er viele seiner Ideen umsetzen und erhielt Anerkennung. Man musste in dieser «Kleinstadt» aber auch einfach Ideen haben.
CI: Gab es weitere herausfordernde Zeiten und Momente für Martin Burckhardt?
VB: Eine sehr schwierige Zeit war während der Ölkrise nach 1973, als die Firma viele Leute entlassen musste. Solche Dinge haben Martin wirklich sehr geplagt. Das habe ich schon sehr nah mitbekommen und das war wahrscheinlich auch jener Moment, als das meiste Geschäftliche ins Private übergeschwappt ist.
RL: Ich habe eben erst mit meiner Mutter darüber gesprochen und auch sie war der Meinung, dass er damals nahe an einer Depression war.
LB: Er hat natürlich immer versucht, sich gegenüber uns Kindern nichts anmerken zu lassen und uns zu schützen, aber wir haben schon gespürt, dass ihm das naheging.
SCH: Können Sie uns noch etwas zu Martins Verhältnis zur Sandoz bzw. zur Familie Jacottet erzählen? Martin war ja quasi deren «Hausarchitekt» und hat auch zahlreiche Labor-Hochhäuser für sie gebaut, die heute noch stehen, trotz der grossen Zäsur, die es durch Daniel Vasella und Vittorio Lampugnani gab.
VB: Mit Jacottets sind wir indirekt verwandt, denn Carl Jacottets Tochter ist meine Schwägerin, die Frau meines Bruders. Aber man muss in diesem Zusammenhang natürlich auch sehen, dass da alte Traditionen auf neue Visionen trafen: Mein Mann ist einer Altbasler Familie entsprungen, und das sind Jacottets nicht. Man hat sich ausserhalb der Arbeit auf Anlässen und Partys getroffen, das entsprach aber eher einer Art Beziehungspflege. Mit Samuel Koechlin war es schon intensiver, denn er war der direkte Cousin von Martin.
CI: Sie haben als Gastgeberin bei diesen Anlässen und allgemein ja auch eine wichtige Rolle eingenommen.
VB: Das habe ich nicht so empfunden. Aber ich habe gerne solche Anlässe veranstaltet, wir hatten ja die Räumlichkeiten dazu. Ich glaube auch, dass die Leute dabei vergnügt waren.
LB: Natürlich, dabei kam auch immer das Geschäftliche, das Private und das Freundschaftliche zusammen. Geschäftspartner wurden oft zu engen Freunden und haben einander beispielsweise auch private Häuser gebaut.
SCH: Da kommen wir auch in die Richtung der Politik: Martin war ein liberaler Politiker, und das spürt man jetzt noch in der Firma, das Humanistische. Ich hatte das Gefühl, er war ein Menschenfreund.
VB: Das stimmt, denn Martin hat einfach für das gekämpft, was er persönlich wichtig fand, die Identifikation mit einer Partei war da eher zweitrangig. Er hat ja beispielsweise auch den arbeitslosen Werner Buess aus der PDA (Partei der Arbeit) angestellt; dessen Verbindungen haben ihn nicht gestört.
SCH: Das ist diese Grosszügigkeit über die Parteigrenzen hinweg, anderen ihre Meinung zu lassen, das hat Martin ausgezeichnet. Und auch Verantwortung für andere zu übernehmen.
LB: Eine junge Sekretärin kam einmal ganz verzweifelt zu meinem Vater und teilte ihm mit, dass sie schwanger sei. Daraufhin hat mein Vater sie und ihren Freund heranzitiert, um das alles «in Ordnung» zu bringen. Als der junge Mann im Gespräch meinte, er wisse nicht, ob er die Verantwortung des Vaterseins übernehmen könne, entgegnete mein Vater bloss: «Sie haben sie schon.»
VB: Verantwortung übernehmen konnte Martin gut. Deswegen haben wir uns auch sehr gefreut, als er Nationalrat wurde. Schade war nur, dass er das Amt erst mit 67 Jahren antrat, denn damals gab es noch eine parteiinterne Regelung, die vorsah, dass man mit 70 Jahren zurücktreten musste.
CI: Was hat das mit ihm gemacht?
VB: Er sass bestimmt nicht einfach da und hat darüber geweint, so war er nicht. Er war vielleicht ein wenig traurig, aber er war zum Glück ein schöpferischer Mensch und ein Mann der Tat. Viel einschneidender war, als er sein Augenlicht verlor. Er war nicht mehr mobil und konnte nicht mehr mit seinem Cabriolet fahren. Apropos Cabriolet: Ich kann mich auch noch genau an unser erstes Rendez-vous erinnern, als er mich auf eine Spritztour eingeladen und mit seinem Cabriolet abgeholt hat. Wir haben eine Fahrt quer durch die ganze Schweiz unternommen und teilweise hat es geregnet. Ihm war das egal, mir weniger, aber ich habe alles mitgemacht und ich habe damals schon gemerkt, dass Martin in allen Dingen sehr besonders und zielstrebig war. Wir haben während der Fahrt zwar kein Wort gesprochen, dennoch war es der Beginn einer Freundschaft.
CI: Von weiteren Interviewpartnern haben wir bereits viele abenteuerliche Geschichten über Martin Burckhardt gehört. War das Leben mit ihm auch abenteuerlich?
VB: Vieles habe ich zum Glück nicht mitbekommen. Oft wollte man mir auch Dinge verheimlichen, wenn Martin wieder einmal etwas angestellt hatte, wie beispielsweise seinen Reitunfall in Österreich. Da wurde mir alles Mögliche erzählt, warum jetzt Martin noch nicht nach Hause kommen könne. Da hat man mir die wildesten Märchen erzählt. Aber richtig Angst um ihn hatte ich nie.
LB: Er wollte immer viele Dinge ausprobieren oder sich beweisen. Beim Reitunfall wollte er wahrscheinlich zeigen, dass er reiten konnte, denn er war schliesslich ein Offizier. Sein Sturz war ihm deswegen bestimmt sehr unangenehm.
SCH: Was ist mit Kochen? Er hat ja gerne gezeichnet und es gibt ja auch Kochbücher von ihm, die er illustriert hat – aber selbst gekocht hat er wohl nicht, oder?
VB: Zum Glück nicht! Nur einmal, als wir bereits verlobt waren und er im grossen Haus wohnte und ich noch im kleinen nebenan, hat er eines Tages beschlossen zu kochen, obwohl er es ja gar nicht konnte. Er wollte blaue Spaghetti kochen und hat dafür irgendwelche blaue Farbe über die Spaghetti geschüttet – kreativ, wie er war. Aber die konnte man dann natürlich so nicht essen. Irgendwann ist dann seine Mutter von drüben gekommen und hat uns aus Mitleid etwas Gekochtes zum Essen gebracht, die Gute.
Martin und ich haben uns jedenfalls gut ergänzt. Ich habe zu Hause die Stellung gehalten, bin aber nie mit auf Reisen oder dergleichen. Dennoch war ich immer voll beschäftigt mit zwei wundervollen Kindern und ich hatte die Kunst und das Theater, das war meine Welt. Davon hat auch Martin profitiert, indem ich ihm zu Hause nicht auf die Nerven ging. Er selbst kam nur selten mit ins Theater, nicht weil er keine Lust hatte, sondern weil ihm die Zeit dazu fehlte.
LB: Aber er hat beispielsweise einmal ein Bühnenbild gemalt. Theaterregisseur Hans Hollmann hatte ihn angefragt, ob er für «Figaros Hochzeit» in Nürnberg ein Bühnenbild malen könne, und mein Vater hat zugesagt – unter anderem auch, weil er Mozart sehr mochte. Wir haben dann alle zusammen einen tollen Ausflug zur Premiere gemacht.
SCH: Für Architekten ist dies ja beinahe eine Art Adelung, ein Bühnenbild entwerfen zu dürfen. Unter anderem, weil es eine Zusammenarbeit über mehrere Disziplinen wie Musik, Literatur und Gestaltung hinweg erfordert. Und damit kann man ja auch Zeichen setzen in Bezug auf die eigenen Interessen. Apropos Disziplinen: War es nie ein Thema für euch Kinder, in die Fussstapfen des Vaters zu treten und die Firma zu übernehmen?
LB: Für mich gar nie, ich war dazu völlig ungeeignet. Meine Schwester noch eher, aber ich denke, auch für sie war es kein Thema.
VB: Wissen Sie, Sie können nicht einfach Architekt werden, Sie benötigen das Talent dazu. Und wenn das nicht vorhanden ist, dann besitzt man hoffentlich zumindest die Einsicht, dass man es nicht kann.
CI: Wenn Sie die grossen Themenfelder seines Lebens wie Architektur, Familie, Politik und Kunst gewichten müssten, nach welcher Priorität würden Sie die für Martin Burckhardt einstufen?
VB: Er war schon ein grosser Familienmensch. Jetzt nicht im Sinne von die Familie am Sonntag in die Kirche oder auf den Spaziergang zu begleiten, aber er hat seine Kinder und mich sehr geliebt. Deswegen würde ich sagen, die Familie stand an erster Stelle, aber die Arbeit hat wahrscheinlich den meisten Raum eingenommen.
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